Achtsam radeln mit Sankt Meinrad

Unterwegs mit und zu sich selbst. Der neue Radweg auf den Spuren des Heiligen, der Ursprung des Klosters Einsiedeln ist, zeigt: Pilgern ist angesagt. Aber der religiöse Tourismus bleibt eine Nische.

Von Dominik Thali |  29.09.2022

Vor dem Kloster Beuron führt der Meinradweg einige wunderschöne Kilometer auf dem Donauradweg. Bild: Dominik Thali

«Pilgern ist seit jeher eine Möglichkeit, ganz neu und ‹anders› aufzubrechen; mit sich selbst, mit eigenen Fragen und Hoffnungen, mit der Schöpfung und Weggefährten und letztlich mit Gott in Berührung zu kommen», lese ich in einem Prospekt, der mir im Kloster Hegne am Bodensee in die Hände kommt. Hier übernachte ich in einer Dachkammer der Schwestern. Müde nach dem dritten Tag im Sattel.

Pilgern lässt sich auch mit dem Velo. Für den Einsiedler Pater Philipp Steiner, Erfinder des Meinradwegs (Kasten), handelt es sich dabei «einfach um eine moderne Version von etwas, das eine jahrtausendealte Tradition hat».

Das Münster auf der Klosterinsel Reichenau, Etappenort auf dem Meinradweg. Hier wurde Meinrad Priester und Mönch. | Bild: Dominik Thali

Eine Meinradelei

In Berührung mit Gott kommen? Wem das zu fromm klingt, der oder die wird sich doch zumindest berühren lassen auf einer solchen Meinradelei. Ich versinke pedalierend in Gedanken – und bin zum Beispiel dankbar. Das hat vorerst nichts mit Glaube und Religion zu tun. Es ist mir vielmehr ein Bedürfnis. Je mehr ich danke, desto mehr freue ich mich daran, wofür ich danke. Meine Beine tragen mich. Mein Velo rollt rund. An Tag 2 fotografiere ich bei der Burg Hohenzollern ein Paar aus Spanien. Er bedankt sich mit den Worten: «Thank you, my friend.» Oder: Die Route führt mal wieder weg von der grossen Strasse und durch luftigen Wald. Im Kloster Beuron an der Donau schliesslich, wo ich dem Nachtgebet der Mönche lausche, lächelt mir der Pater zu, der sich am Ende mit dem Weihwasserwedel auch zum Volk wendet und mit dem Segen den Tag abschliesst. Ich bin der einzige Gast im Kirchenschiff.

26 Kirchen entlang des Meinradwegs sind mit diesem Schild ausgezeichnet. | Bild: Dominik Thali

Ein Geistesblitz bei der Vigil

Achtsamkeit lässt sich gut üben und «er-fahren» im Sattel. Dabei ist der Meinradweg ein recht gewöhnlicher Radweg. Aussergewöhnlich mache ich ihn mir erst selbst. Ich staune ob der Lieblichkeit der Landschaft. Ich setze mich für eine Weile in eine Kirchenbank. Zünde eine Kerze an. Gönne mir abends ein Grosses. Über den Etzelpass, wenige Kilometer vor dem Ziel, stosse ich. Zu steil. Zu heiss. Mein Stossgebet hilft nichts. Das ist stossend. Oder aber vielleicht mein Glaube zu wenig stossfest. Ich lache. Zum Glück ist heute der letzte Tag.

Als Pater Philipp, Wallfahrtverantwortlicher in Einsiedeln, vor fünf Jahren über einen Pilgerweg auf den Spuren des heiligen Meinrad nachdachte, fiel ihm die zündende Idee frühmorgens während der Vigil zu. «Aus ‹Mein-Rad› ergab sich fast von selbst ein Fahrradpilgerweg», erzählt er. «Ein Geistesblitz.» Der Meinradweg wurde 2019 eröffnet. Corona bremste ihn aus, jetzt werde der Weg aber wieder befahren, freut sich der Pater. Und schmunzelt: «Auch der Jakobsweg brauchte schliesslich einige Jahrhunderte bis zu seiner heutigen Bekanntheit.»

So lange muss er nicht zurückblicken, um festzustellen, in welchem Wandel die Wallfahrt begriffen ist. Pater Phi­lipp stellt eine Bewegung fest «weg vom Gemeinschaftserlebnis mit tra­ditionellem Programm hin zu mehr eigener Gestaltung, grösserer spiritueller Offenheit und höheren Ansprüchen an das, was man am Wallfahrtsort antrifft».

Aus dem Alltag ausbrechen

Der Meinradweg nimmt diesen Wandel auf. Er gehöre damit zu den Angeboten, die «Berührungspunkte mit der Spiritualität» schafften, sagt Norbert Bischofberger, «für die heutige Zeit und für Menschen, die kulturell interessiert, in den Kirchen jedoch meist nicht mehr beheimatet sind». Bischofberger betreut für Schweizer Radio und Fernsehen SRF die Sendung «Spirituelle Wege der Schweiz».

Mit Menschen, wie er sie beschreibt, ist Bernhard Lindner von der Fachstelle Bildung und Propstei Wislikofen der Aargauer Landeskirche seit über 20 Jahren auf dem Jakobsweg unterwegs. Er erlebt die Teilnehmenden seiner Pilgerwanderungen oft als «Suchende nach mehr als dem Einerlei des Alltags». Beim Pilgern gehe es nicht darum, «irgendwo zwingend anzukommen», sondern sich auf den Weg zu machen, aus dem Gewohnten auszubrechen und neue Sichtweisen zu entdecken. Das lange Laufen lasse viele Gedanken, Bilder und Erinnerungen kommen und gehen. Das erdet offenbar viele Menschen. «Ich konnte noch nie so gut abschalten und ausbrechen aus dem beruflichen Stress», meldete jüngst ein Teilnehmer zurück. «Pilgern boomt», stellt Lindner mit Verweis auf die Massen fest, die Jahr für Jahr auf dem Jakobsweg unterwegs sind.

Das Pilgern schon, nicht aber der spirituelle Tourismus, relativiert Pater Philipp. Zumal nach Corona ja wieder gelte: «Je weiter weg, desto besser.» Julian Thorner, Sprecher von Schweiz Tourismus, sagt: Das «Bewusstsein für das eigene Wohlbefinden, Entspannung und Selbstoptimierung» steige zwar. Religiöse Reisen blieben aber «ein Nischensegment».

Ziel beinahe erreicht: der Autor auf dem Etzelpass; im Hintergrund die Meinradskapelle und das Gasthaus St. Meinrad. | Bild: Dominik Thali

Die Kirche in der Pflicht

Norbert Bischofberger sieht gleichwohl in der «Kirche am Wegrand», von der er spricht, ein «mögliches Zukunftsmodell». Er fragt: «Achtsamkeit ist in aller Munde. Weshalb sollten nicht auch die christlichen Kirchen aus ihrer reichen Tradition schöpfen und sie den Menschen in neuen Formen zugänglich machen?»
Damit ist Bernhard Lindner einverstanden. Keinesfalls aber dürften die spirituellen Bedürfnisse von Menschen zur Rechtfertigung von kirchlicher Organisation oder für die Mitgliederwerbung instrumentalisiert werden, betont er. Für Lindner hat die Kirche «den Auftrag, sich in den Dienst gelingenden Lebens zu stellen». Wenn also Menschen auf der 
Suche nach Sinn, nach spirituellen Erfahrungen seien, dann sei es «Pflicht der Kirche, diesen ein Angebot zu machen».

Auf Sankt Meinrads Spuren

Der Meinradweg ist ein Radweg auf den Spuren des heiligen Meinrad. Er beginnt an dessen Geburtsort in Rottenburg am Neckar in Baden-Württemberg, führt über die Schwäbische Alb zur Insel Reichenau im Bodensee und endet, wo der Benediktinermönch um das Jahr 835 im Finstern Wald seine Klause erbaute und 861 von Wegelagerern gemeuchelt wurde. Dort entstand später ein Kloster und über die Jahrhunderte der grösste Wallfahrtsort der Schweiz, Einsiedeln.

Der Meinradweg ist um die 300 Kilo­meter lang und kann gut in vier bis fünf Etappen gefahren werden. Empfehlenswert sind die ange­gebenen Übernachtungsmöglichkeiten. In Beuron etwa bei den Benediktinern im Kloster oder in Hegne in einem Pilgerzimmer der Schwestern. Es gibt dort keine Pflicht, vor dem Einschlafen zu beten. Jedoch freundliche Bewirtung und Kontakte. In Kapitel 53 der Benediktsregel heisst es bei «Aufnahme der Gäste» unter Punkt 2: «Allen erweise man die angemessene Ehre, besonders den Brüdern im Glauben und den Pilgern.»

meinradweg.com