«Die Doktrin ist das Problem»

Ende Juli reiste Papst Franziskus nach Kanada, um sich für die Vergehen der katholischen Kirche an der indigenen Bevölkerung zu entschuldigen. Dennoch fehlte dabei ein entscheidender Schritt, sagt der Luzerner Historiker Manuel Menrath. (*) 

Von von Matthias Drobinski | Zeitschrift «Publik-Forum», Ausgabe Nr. 15/2022 |  28.09.2022

Das Bild ging um die Welt: Chief Wilton Littlechild (links, von hinten) überreichte Papst Franziskus (rechts.) in Kanada einen Federschmuck. Bild: Paul Haring/CNS photo/KNA

War die Reise von Papst Franziskus historisch, wie der Vatikan sagt?
Manuel Menrath:
Auf jeden Fall. Man muss sich nur die Aussage von Papst Benedikt XVI. vergegenwärtigen, der 2007 in Brasilien sagte, die Ureinwohner hätten sich den christlichen Glauben herbeigesehnt. Jetzt gab es einen echten Lernprozess. Franziskus hat sich entschuldigt für das unfassbare Leid, das Kinder in den Residential Schools erlitten haben, er hat die Menschen dort besucht, wo ihnen Leid angetan wurde. Das finde ich hoch respektabel. Trotzdem üben Vertreter der Indigenen Kritik an diesem Besuch. Warum?

Trotzdem üben Vertreter der Indigenen Kritik an diesem Besuch. Warum?
Die Indigenen in Kanada sind sehr heterogen. Wilton Littelchild hat Franziskus den Federschmuck überreicht, weil er seine beschwerliche Bußreise anerkennt. Andere sind empört und finden das zu viel der Ehre, solange seiner Reue keine konkreten Schritte gefolgt sind. Ein Teil der Indigenen ist trotz allem tiefgläubig christlich, andere praktizieren ihre vorchristliche Religion und Spiritualität, wieder andere versuchen, beide Welten zu verbinden. Fast alle aber wurden in diesen Umerziehungsschulen traumatisiert. Gerade in katholischen Einrichtungen war die sexuelle Ausbeutung enorm. Das hätte Franziskus deutlicher sagen müssen.

Bei einer Papst-Messe entrollten Protestierende ein Banner mit der Inschrift: »Schafft die Doktrin ab«. Was hat es damit auf sich?
Da geht es um die »Doctrine of Discovery«. Verschiedene Päpste haben im 15. und 16. Jahrhundert die Lehre entwickelt, dass die christlichen Eroberer sich alles Land aneignen dürfen, das nicht von Christen genutzt wurde. Später haben das auch Protestanten übernommen. Für die Indigenen ist das Landraub. Ihnen ist es sehr wichtig, dass dies die Kirchen anerkennen und die Doctrine of Discovery widerrufen. Das hat der Papst nicht getan.

Das bleibt unversöhnlich und ein wunder Punkt, trotz aller guten Gesten...
...dass Papst Franziskus sagt: Die Absichten der Kirche waren gut, sie wurden nur furchtbar falsch und missbräuchlich umgesetzt. Während viele Vertreter der First Nations sagen: Das Unrecht begann mit der kirchlich abgesegneten Landnahme und der Vorstellung, dass die Menschen bekehrt werden müssen. Ich habe für mein Buch »Unter dem Nordlicht« mehr als 100 Interviews mit Indigenen geführt – da hiess es durchgehend: Die Doctrine of Discovery ist bis heute ein Problem. Daran hat der Papst sich nicht gewagt.

Wie hätte er das tun können?
Er hätte sich von indigenen Historikern und Historikerinnen informieren und beraten lassen können. Es gibt in Kanada zwei Erinnerungskulturen: die westliche und die indigene. Aus westlicher Sicht gab es insgesamt einen Fortschritt, einzelne Menschen haben jedoch versagt. Aus indigener Sicht hat die gesamte katholische Kirche versagt. Dem hätte Papst Franziskus sich stärker aussetzen können. Aber das kann ja noch geschehen. Wir stehen noch ganz am Anfang eines Weges.

Was müsste da als Nächstes passieren?
So wichtig die historisch-politischen Fragen sind: Viele Überlebende der Residential Schools wollen jetzt im Leben konkrete Gerechtigkeit erfahren. Es müssten alle, die in diesen Schulen Unrecht getan und Gewalt ausgeübt haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Auch wenn die Taten zum Teil lange her sind: Kultureller Genozid verjährt nicht. Es braucht eine radikale historische Aufarbeitung dieses ganzen Schulsystems, dazu gehört auch, dass die katholische Kirche sich länger als andere Kirchen gesträubt hat, Schuld einzugestehen. Und immer noch hält die Kirche Akten zurück.

War es richtig, dass Franziskus sich den Federschmuck aufgesetzt hat?
Was hätte er tun sollen? Ihn nicht aufzusetzen wäre auch ein Affront gewesen. Vielleicht hätte er ihn kurz aufsetzen und in einer Demutsgeste wieder absetzen können, aber das ist vielleicht zu viel verlangt in solch einem Moment. Immerhin hat das in den Indigenen-Foren für lustige Bildmontagen gesorgt – der kanadische Indigenen-Ausweis mit dem Bild von Franziskus zum Beispiel. Auch das eint die indigenen Kulturen: der Sinn für Humor.

(*) Manuel Menrath lehrt am Historischen Seminar der Universität Luzern. In seinem Buch «Unter dem Nordlicht» beschreibt er die Geschichte der indigenen Völker Kanadas.