«Die Erde ist immer zu retten»

Daniel Dettling blickt trotz Pandemie und Klimawandel optimistisch nach vorne. Der Zukunftsforscher prophezeit auch den Kirchen, dass sie «mehr denn je gebraucht» werden, weil Menschen auf der Suche nach Sinn, Orientierung und Jenseitigkeit seien.

Von Melanie Fox |  29.12.2021

Antoniuskapelle in Schenkon Bild: Gregor Gander

War früher alles besser?

Daniel Dettling: Nein, dieses Gefühl lässt sich empirisch nicht belegen. Dass wir dieses Gefühl haben, ist eher ein Zeichen dafür, dass wir uns nach Orientierung und Kontrollierbarkeit sehnen.

Warum blicken wir eher pessimistisch in die Zukunft?

Das ist immer eine Frage der Perspektive. Asiat*innen und Afrikaner*innen haben im Vergleich zu uns Europäer*innen – oder generell den Menschen in der westlichen Welt – eine wesentlich positivere Vorstellung von der Zukunft.

Warum?

Weil ihr Lebensstandard gestiegen ist und in Zukunft weiter steigen wird.

Obwohl beispielsweise die afrikanischen Länder unter extremer Armut leiden?

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, um eine Milliarde verringert. Funktionierende Demokratien leiden weniger darunter.

«Die Menschen sind auf der Suche nach Sinn und Orientierung», sagt Zukunftsforscher Daniel Dettling. | Bild: Thomas Kierok

Sie sagen das Ende extremer Armut voraus. Woraus schliessen Sie das?

Durch die Corona-Pandemie hat sich die Armut erstmals seit Langem wieder verschlimmert. Die Pandemie wird den Kampf gegen sie verlangsamen – aber dann beschleunigen, weil sich durch das dann folgende Wirtschaftswachstum wesentlich mehr Perspektiven für extrem arme Menschen auftun werden.

Welche Rollen werden Frauen im 21. Jahrhundert spielen?

Sie werden es massgeblich prägen, sowohl politisch und ökonomisch als auch sozial und kirchlich. Wir Männer können viel von ihnen lernen. Frauen kommunizieren anders, moderieren mehr, suchen den Ausgleich, sind fairer. Wer das Thema Frauen vernachlässigt, hat keine Zukunft. Der verschwindet vom Markt – egal ob als Kirche, als Partei oder als Unternehmen.

Welchen Stellenwert wird die Kirche künftig in unserer Gesellschaft haben?

Sie wird mehr denn je gebraucht werden. Die Menschen sind auf der Suche nach Sinn und Orientierung. Nach Jenseitigkeit. Sie wollen nicht nur im Diesseits ihr Glück suchen, sondern der nächsten Generation etwas hinterlassen. Schon Martin Luther hat gesagt: «Ecclesia semper reformanda est» …

«Die Menschen nehmen die Kirche als wenig selbstkritisch wahr.»
Daniel Dettling

… übersetzt: Die Kirche muss immer wieder erneuert werden.

Dazu wäre jetzt die beste Gelegenheit. Das Problem ist nur: Die Menschen nehmen Kirche im Augenblick nicht als «semper reformanda» wahr, sondern als mit sich selbst beschäftigt, wenig selbstkritisch und von sich und der Zukunft überzeugt.

Was müsste die Kirche Ihrer Meinung nach anders machen, um zukunftsfähig zu sein?

Sie muss hinaus in die Gesellschaft gehen. Kommen die Menschen nicht in die Kirche, muss die Kirche zu ihnen kommen. In die Armutsviertel, in die Häuser. Menschen sehnen sich nach Glück, Orientierung und Religiosität. Wir überlassen viele Fragen zu sehr der Unterhaltungsindustrie und den sozialen Medien.

Bunter, jünger und weiblicher müsste die Kirche nach Ansicht von Daniel Dettling aussehen, damit sie bestehen bleibt. Im Bild: Impressionen aus einem Jubla Lager. | Bild: Jungwacht Blauring Schweiz

Die eigentlichen Plattformen für Sinn und Orientierung sind aber doch die Kirchen, Schulen, Vereine und Parteien. Es fehlen ansprechende Angebote, gerade für Jugendliche, die sagen: Wir sind da. Hier bräuchte es Netzwerke, um mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Auch wenn sich Heranwachsende vielleicht jahrelang nicht auf Angebote melden – irgendwann kommen sie wieder. Das ist wie beim Gleichnis mit dem verlorenen Sohn. Niemand ist verloren.

Wie müsste die Kirche der Zukunft aussehen, damit sie bestehen bleibt?

Bunter, vielseitiger, jünger – und weiblicher.

Die Klimakrise macht es schwer, an eine bessere Welt zu glauben. Ist die Erde noch zu retten?

Die Erde ist immer zu retten! Bislang hat es noch keine Generation geschafft, sie zu zerstören. Das wird auch uns nicht gelingen. Aber natürlich haben wir grosse Herausforderungen zu bewältigen. Mit dem Klimawandel werden wir lernen müssen zu leben – so wie mit künftigen Pandemien auch.

«Bislang hat es noch keine Generation geschafft, die Erde zu zerstören.»
Daniel Dettling

Wie soll das gehen?

Der Mensch ist sehr anpassungsfähig. Er erfindet emissionsfreie Anlagen, Städte, die sich von selbst kühlen, saubere Autos, andere Formen der Mobilität. Der Mensch ist ein sehr flexibles, innovatives Wesen, das sich den Herausforderungen stellen kann.

Die Pandemie ist eine Krise, der Klimawandel ist eine Krise. Es gibt das Sprichwort von der «Krise als Chance». Würden Sie das auch so sehen?

«Verschwende nie eine gute Krise!», sagte Winston Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg. Krisen sind eine Störung, mit der wir uns kreativ und innovativ auseinandersetzen müssen, um nach und mit dieser Krise ein besseres und gerechteres Leben führen zu können. So gesehen ist eine Krise tatsächlich eine Chance.

Und wie könnte ein Leben mit der Krise konkret aussehen?

Die Pandemie hat vieles an Veränderungen beschleunigt und viele Innovationen vorangetrieben. Bei den Pflegeberufen beispielsweise gibt es neue Lohn- und Tarifabschlüsse, die Anstiegsraten liegen im zweistelligen Bereich. Das können andere Berufe so nicht von sich sagen. Arbeitsbelastung, Arbeitszeitbelastung und intelligente Zeitmodelle sind Themen, die jetzt angegangen werden. Jetzt geht es darum, nicht nachzulassen und die Bereiche Gesundheit, Klima, soziales Wohlbefinden, Lebensqualität und individuelles Glück zusammen zu denken. Eine Lehre der Pandemie ist, dass wir die Themen ganzheitlich betrachten und lösen müssen.

Erstpublikation in «Leben jetzt», Magazin der Steyler Missionare

Kritischer Optimist

Daniel Dettling, 49, ist deutscher Jurist und promovierter Verwaltungswissenschaftler. Er analysiert relevante Trends und Zukunftsthemen, befasst sich mit dem Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und berät Parteien, Ministerien und Unternehmen. Mit seiner Frau und den drei Kindern lebt er in Berlin.

Daniel Dettling: Eine bessere Zukunft ist möglich | Kösel-Verlag 2021 | ISBN 978-3-466-37275-1 | Fr. 28.90