«Die Flucht war wie ein Karfreitag»

Feiern und Verrat, Tod und Leere, Hoffnung und Neubeginn: An den Kar- und Ostertagen verdichtet sich das Leben. Zwei Flüchtlinge erzählen, was das für sie heisst. Beide klammern sich an die Hoffnung.

 

Von Nicola Neider (aufgezeichnet), Bearbeitung Dominik Thali |  27.03.2024

Ruben hat intensive Erinnerungen an die Kar- und Ostertage in seiner Heimat Venezuela. Bild: Nicola Neider

Ruben (33), stammt aus Venezuela, über Chile, Spanien und Frankreich in die Schweiz gelangt, Asylantrag hängig, lebt im Durchgangszentrum Sonnenhof in Emmenbrücke.

«Ich bin in einer frommen katholischen Familie in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Wir lebten Traditionen wie Prozessionen und Heiligenverehrung. Der Glaube gibt mir bis heute grossen Halt. Für mich existiert Gott wirklich. Ich spüre seine Gegenwart in meinem Leben. Vor allem in schwierigen Zeiten.

Die Karwoche und Ostern waren in meinem Dorf wichtig. Der Kreuzweg am Karfreitag führte mit vielen Stationen durch das ganze Dorf – sehr anschaulich. Am Samstag kam die ganze Gemeinschaft zusammen, und Ostern wurde mit viel Freude gefeiert. Das bedeutete mir viel.

Auch Jesus war allein

«Die Flucht war für mich traumatisch, weil ich Venezuela gegen meinen Willen und heimlich verlassen musste. Ich vermisse vor allem meine Madrina, meine Gotte. Sie ist in meinem Leben sehr wichtig. Ich musste alles hinter mir lassen, konnte nichts mitnehmen und hatte wirkliche Probleme, deswegen musste ich so weit weg wie möglich. In dieser Zeit dachte ich viel an Jesus. Auch er war in der Nacht auf den Karfreitag allein und einsam. Mit meinen vielen Sorgen fühlte ich mich mit ihm verbunden. Ich habe bis heute Gefühle von Sehnsucht und Nostalgie, die sich mit der Erfahrung des Alleinseins Jesu verbinden lassen. Ostern bedeutet für mich, dass ich mich nie alleingelassen fühlen und nie die Hoffnung aufgeben darf. Jesus ist auferstanden und hat damit über den Tod gesiegt. Daran glaube ich.

In dieser Zeit dachte ich viel an Jesus.
Ruben aus Venezuela

Auf meiner Flucht kam ich irgendwann in Chiasso an. Dort hörte ich in einem Gottesdienst in italienischer Sprache von der Forza de Amore, der Kraft der Liebe. Das hat mich berührt. Jesus lädt mich immer wieder neu ein.

Ich lebe im Durchgangszentrum Sonnenhof und warte auf meinen Asylentscheid. Am Sonntag besuche ich jeweils den Gottesdienst der spanischsprechenden katholischen Gemeinschaft in der Mariahilfkirche in Luzern. Das bedeutet mir viel und ich treffe Menschen aus Spanien und aus Lateinamerika. Dort werde ich auch die Kar- und Ostertage feiern.

Obwohl ich oft Angst habe, mein Asylgesuch könnte abgelehnt werden, überwiegt die Hoffnung, dass ich hier bleiben darf. Ich vertraue darauf, dass es immer weitergeht. Ich weiss nicht, was ist, wenn ich die Schweiz verlassen muss. Aber selbst wenn: Ich glaube, dass es nach dem Tod immer einen Sieg gibt. Ich weiss aber noch nicht, wie es sein wird. Ansonsten lerne ich mit viel Energie Deutsch, auch das gibt mir Kraft, und ich hoffe, dass ich bald eine Arbeit finde.»

Firmin aus Kamerum möchte anonym bleiben. Quelle: Bild: Nicola Neider

Firmin (37) stammt aus Kamerun, von wo er im Mai 2023 flüchtete. Über das Mittelmeer gelangte er nach Lampedusa und Ende November in die Schweiz. Er lebt im Bundesasylzentrum Glaubenberg.

«Als mein Vater starb – meine Mutter ist schon länger verstorben –, wollten die Ältesten meines Dorfes mich zwingen, die beiden noch lebenden Witwen meines Vaters zu heiraten. Das entspricht auf dem Land in Kamerun dem Brauch, auch wenn es offiziell verboten ist. Ich lebte aber schon lange nicht mehr in diesem Dorf, sondern in einer Stadt, wo ich verheiratet bin und zwei Kinder habe.

In der Schweiz fühle ich mich sicher.
Firmin aus Kamerum

Als die Dorfältesten mich unter Druck setzten, bekam ich Angst. Ich wollte diese Heirat auf keinen Fall. Ich hätte zudem für die ganze Familie finanziell aufkommen müssen. Als ich keinen Ausweg mehr sah, sprach ich mit meiner Frau und floh. Sie lebt mit unseren Kindern weiter in Kamerun und muss sich dort nun aber verstecken.

Religion und Traditionen

Ich lief erst zu Fuss, sieben Tage lang, tagsüber versteckte ich mich im Wald, nachts war ich unterwegs, bis ich über der Grenze war. Dort konnte ich mit dem Geld, das ich hatte, ich habe einen kleinen Online-Handel, die Weiterreise organisieren und gelangte schliesslich über das Mittelmeer nach Lampedusa. Hier arbeitete ich eine Zeit lang, bis ich am 30. November Chiasso erreichte. In der Schweiz fühle ich mich sicher.

Ich bin in einer religiösen Familie aufgewachsen und gehöre einer protestantisch-orthodoxen Kirche an, die es nur in Kamerun gibt. Der Glaube gibt mir bis heute sehr viel. Gleichzeitig existieren in Kamerun vor allem im ländlichen Raum noch viele traditionelle Bräuche wie die Polygamie. Und traditionell ist es so: Wenn ein Mann stirbt, muss entweder ein Bruder die Witwen heiraten oder – falls es keine Brüder (mehr) gibt – der älteste Sohn.

Beten auf der Flucht

Die Karwoche und Ostern sind in meiner Kirche wichtige Tage. Am Gründonnerstag erhalten die Kinder zum ersten Mal die Kommunion, so wird die Liebe geteilt. Der Karfreitag ist auch bei uns ein hohes Fest. An Ostern erhalten vor allem die Kinder neue Kleider, aber alle Menschen kommen dann mit weissen Kleidern in den Gottesdienst. Am Karsamstag verbringt man den ganzen Tag zusammen. Es gibt religiöse Konzerte und vieles mehr, zum Beispiel Spiele.

Ich fühlte mich auf der Flucht die ganze Zeit sehr allein. Ich dachte an meine Kinder und erinnerte mich an die Texte der religiösen Lieder. Ich betete auch immer wieder und ich dachte daran, dass auch Jesus Christus alleine war und betete.

Die Flucht war wie ein Karfreitag. Als ich endlich Lampedusa sah, kam Hoffnung auf. Wir waren 48 Flüchtlinge auf einem wirklich kleinen Boot, aber wir kamen alle gesund an Land.

Ich lebe jetzt im Bundesasylzentrum Glaubenberg. Ich habe einen Dublin-Entscheid erhalten und muss eigentlich zurück nach Italien. Aber Italien akzeptiert zurzeit keine Menschen, die aus der Schweiz zurückkommen. Hier im Zentrum Glaubenberg gibt es keine Gottesdienste. Aber ich gehe ab und zu in die Kapelle Schwendi-Kaltbad. Vielleicht findet dort ja auch ein Ostergottesdienst statt.

Ich hoffe, dass ich in der Schweiz bleiben darf. Dann möchte ich mir eine Arbeit suchen. Ich habe diesen kleinen Online-Handel, damit lässt sich auch hier Geld verdienen. Und ich könnte meine Frau und die Kinder in die Schweiz holen. Ich möchte un­abhängig sein und hoffe, dass man meine Diplome anerkennt. Das wäre wie eine Auferstehung für mich.

Ich bin dankbar für alles, was ich hier erhalte. Als ich kam, hatte ich nur noch die Kleider, die ich trug. Hier erhielt ich neue Kleider, ich bekam auch eine Brille, weil ich ein Augenproblem habe. Ich möchte dies alles der Schweiz zurückgeben, sobald ich arbeiten kann.»

Die Theologin Nicola Neider Ammann (62) leitet seit 2008 den Fachbereich Migration und Integration der katholischen Kirche Stadt Luzern. Daneben ist sie Seelsorgerin im Bundesasylzentrum Glaubenberg ob Sarnen.