Die Tradition ins Heute übersetzen

Seit 502 Jahren gibt es in Sempach an Auffahrt einen Umritt entlang der  Pfarreigrenzen. Mit dabei ist die Eucharistie in der Monstranz. Warum diese Tradition bis heute lebt und wie sie ins Heute übersetzt wird, erzählen drei Mitwirkende.

Von Sylvia Stam |  13.05.2022

Mit einem Ritt entlang der Pfarreigrenzen wollte man das Böse abwenden. Die Eucharistie wurde erst im späten Mittelalter mitgeführt. So wurden aus den Flurumgängen im Laufe der Jahrhunderte die Auffahrtsumritte. Bild: Otto Emmenegger

«Wir freuen uns, dass wir mit zwei Jahren Verspätung den Jubiläumsumsritt durchführen können», sagt Rita Bühler. «Hoffentlich fällt niemand vom Pferd. Nach zwei Jahren Pandemie sind die Pferde etwas aus der Übung.» Rita Bühler war bis 2021 Kirchenrätin in Sempach und organisiert den Auffahrtsumritt dieses Jahr zum 12. Mal. Dennoch sei sie jedes Mal aufgeregt vorher. Wenn dann aber alles geklappt hat, sei sie jeweils «extrem glücklich», erzählt sie im Gespräch.

Zusammen mit sieben Kirchenrätinnen und -räte der Pfarreien Eich und Sempach sowie vier weiteren aus der Pfarrei Hildisrieden begleitet sie am Umritt selber zu Pferd die drei Geistlichen, die ebenfalls reiten. Nach der Tagwache morgens um fünf Uhr durch die Auffahrtsmusik führt der Umritt vom Kirchplatz in Sempach nach Kirchbühl, wo ein erster Gottesdienst stattfindet. In Horlachen und Schopfen gibt es Zwischenhalte mit Text und Musik. In Hildisrieden dann der Festgottesdienst, den jeweils ein Festprediger oder eine Festpredigerin hält. Dieses Jahr ist es der Basler Bischof Felix Gmür.

Seit 500 Jahren unverändert

Nach dem Gottesdienst und dem Mittagessen werden die Pferde gesegnet, ehe der Umritt über St. Anna, Mettenwil und Adelwil weitergeht und um 14.30 Uhr mit einer Schlussfeier und dem Segen in Sempach endet.

«Gemeinsam mit anderen ein grosses Projekt mitzugestalten, ist auch heute attraktiv.»
Franz Zemp, Pfarreileiter Sempach

Seit 502 Jahren sind die wesentlichen Elemente – der Umritt entlang der Pfarreigrenzen mit der Eucharistie in der Monstranz, besinnliche Zwischenhalte, Gottesdienste und Segnung – unverändert. Wie aber kann man mit einer solch alten Tradition heutige Menschen erreichen?

Tatsächlich engagierten sich auch viele Menschen am Umritt, die eher religionsfern seien, sagt Pfarreileiter Franz Zemp: «Gemeinsam mit anderen ein grosses Projekt mitzugestalten, ist auch heute attraktiv.» So wird der Brunch etwa von den örtlichen Jubla-Scharen organisiert, weshalb auch viele Familien am Umritt teilnähmen. Das bestätigt auch Adrian Fleischlin (32), der von Kindsbeinen an am Umritt teilnimmt, seit 2018 als Trompeter und seit diesem Jahr als Leiter der Auffahrtsmusik. Zusammen mit seinem Corps, das aus 16 Blechbläserinnen und -bläsern, einer Pauke und drei Fahnenwachen besteht, möchte er «den vermutlich schönsten Auffahrtumritt der Region musikalisch mitgestalten und so einen besonderen Tag daraus machen».


Die Auffahrtsumritte entstanden aus Flurumgängen zur Abwehr des Bösen. | Bild: Otto Emmenegger

Für ihn steht denn auch weniger die Religion, sondern «das gemeinsame Musizieren, Reiten und ‹Ablaufen› des  Auffahrtsumritts in der wunderbaren Natur» im Zentrum. Das gefalle auch Menschen, die weniger religiös seien. Die Himmelfahrt Jesu etwa sei eher weit weg von ihm.

Die Präsenz des Göttlichen

Heute müsse man «das, was unterwegs passiert, ins Heute übersetzen» sagt Rita Bühler. «Früher ging es darum, die Grenzen des Gebiets abzuschreiten und zu zeigen, dass Gott uns begleitet und beschützt», so Bühler. Heute würde niemand mehr Jesus, präsent in der Eucharistie, mit Gewehren beschützen, so Zemp. Es gehe mehr darum, die Präsenz des Göttlichen auch ausserhalb der Kirchenmauern bewusst zu machen, erklärt der Theologe. Modern ist auch die Sprache: «Die Segnungstexte und Impulse an den Stationen wurden von zeitgenössischen Autorinnen verfasst.» Die Impulse, die sich auf neun Stelen unterwegs befinden, sind seit letztem Jahr auch in gedruckter Form erhältlich.

Wettbewerb für Kinder

Zum Jubiläum wurde ein Wettbewerb ausgearbeitet, der am Umritt gezielt auch Kinder ansprechen soll, erzählt Rita Bühler. Im Städtchen stünden ausserdem zwölf Posten, auf denen Umrittfotos von früher und heute einander gegenübergestellt werden. Sie sind Teil der Sonderausstellung «500 Jahre Sempacher Auffahrtsumritt», die vom 3. bis 29. Mai im Rathausmuseum Sempach stattfindet. Zudem gibt es dieses Jahr einen Apéro für die Bevölkerung.

«Die Kombination von ‹in Formation reiten› und Musizieren ist nicht zu unterschätzen.»
Adrian Fleischlin, Leiter der Auffahrtsmusik

Franz Zemp macht zum ersten Mal in der Funktion des Pfarreileiters mit. «Ein wenig nervös bin ich schon», gibt er zu. Seine Reitkenntnisse müsse er mit ein paar Reitstunden auffrischen. «Ausserdem muss ich das Drehbuch im Griff haben und wissen, wo die Prozession anhält, wo es einen Segen gibt usw.» Unter den rund 80 Reiter*innen ist auch der Bischof. Dieser habe habe ausrichten lassen, dass er keine Reitstunden brauche.

Rita Bühler zu Pferd beim Auffahrtsumritt 2018. | Bild: Otto Emmenegger

Auch die Musikant*innen sind zu Pferd gefordert: «Die Kombination von ‹in Formation reiten› und Musizieren ist nicht zu unterschätzen, zumal die Bewegungen der Pferde gut spürbar und für die Blechbläser*innen eine zusätzliche Herausforderung sind», sagt Fleischlin. Deshalb werde kurz vor Auffahrt auch einmal auf den Pferden geprobt. Zum Jubiläum vor zwei Jahren war eine Neuinstrumentalisierung der Auffahrtsmusik geplant. Die neuen Instrumente wurden letztes Jahr «zu Fuss» eingeweiht, «umso mehr freuen wir uns, sie dieses Jahr auf den Pferden zu präsentieren», sagt der Schreiner und Holzingenieur.

Ein wenig Wehmut

Rita Bühler organisiert den Umritt dieses Jahr zum letzten Mal. Etwas Wehmut empfindet sie schon, gesteht sie. «Ich war gerne Kirchenrätin, ich organisiere gern, die Zusammenarbeit mit der Pfarrei war immer sehr toll», sagt die 61-Jährige Primarlehrerin und Bäuerin, die mit ihrem Mann und ihrem Sohn eine Garage führt. Am Umritt wird sie weiterhin teilnehmen, wenn auch nicht mehr zu Pferd, denn: «Ich schöpfe viel Kraft aus der Religion, aus der Natur und aus dem Zusammensein mit den Leuten, die ebenfalls unterwegs sind. Das vermittelt mir das Gefühl, nicht allein zu sein.»

Vom Bannen zum Bitten

Die Auffahrtsumritte entstanden aus Flurumgängen zur Abwehr des Bösen. Ab dem späten Mittelalter führte man im Kanton Luzern neu die Eucharistie mit. Dadurch wurden die Flurumgänge von Bann- zu Bittprozessionen.

Eine solche Verschmelzung von Flurumgang und Sakramentsprozession gab es einzig in Altishofen, Beromünster, Ettiswil, Grosswangen, Hitzkirch und Sempach, wo bis heute Auffahrtsumritte stattfinden.

Dass ein solcher erstmals 1520 in Sempach stattfand, gründet in einer Annahme. Damals war Hans Feer Leutpriester in Sempach. Feer hatte weitere Ämter in Beromünster, Ettiswil und Hitzkirch inne - just dort, wo jeweils ein Auffahrtsumritt ins Leben gerufen wurde.