«Es kann jeden Menschen treffen»
Jesus kam in einem Stall zur Welt, weil seine Eltern keine Unterkunft fanden. Wer sind die Menschen, die heute ohne Obdach leben? Und was heisst Weihnachten für sie? Ein Besuch bei der Notschlafstelle und der Gassenküche Luzern.
Weihnachtsfeier in der Gassenküche: Ein Ritual mit Feuerschale gehört dazu, «Stille Nacht» eher nicht. | Bild: Jutta Vogel
Maria und Josef suchten in Bethlehem Herberge. Weil sie keine Unterkunft fanden, kam Jesus in einem Stall zur Welt, heisst es in der Weihnachtsgeschichte.
Auch heute leben im Raum Luzern zahlreiche Menschen, die keine Unterkunft haben. Um hier vorübergehend Abhilfe zu schaffen, betreibt der Verein Jobdach die Notschlafstelle. Diesen Sommer konnte sie einen neuen Standort beziehen (siehe Kasten). Dieser bietet weit mehr als der Stall zu Bethlehem, aber auch mehr als der alte Standort im Bruchquartier: Neu sind es 22 statt 15 Betten, es gibt mehr Nasszellen und ein barrierefreies Bad. Dank der Küche kann das Team nun selbst für die Klient:innen eine einfache Mahlzeit kochen. Den Klienten, die an diesem Novemberabend hier eine Linsensuppe essen, gefällt der neue Standort: «Es gibt mehr Privatsphäre, mehr Duschen, dadurch ist es sauberer», sagt ein Mann (54) und lächelt verschmitzt. Seine Geschichte mag er an diesem Abend nicht erzählen.
Schicksalsschlag im Alter
Ihm schräg gegenüber sitzt ein Herr in heller Daunenjacke. Seine Geschichte sei rasch erzählt, sagt der 79-Jährige: «Meine Frau ist vor anderthalb Jahren gestorben, ich habe sie zehn Jahre gepflegt. Ich bin daraufhin in eine schwere Depression gefallen und ein halbes Jahr nicht aus meiner Alterswohnung herausgekommen. So habe ich alles verloren.» Er lebe von der AHV, Pensionskasse habe er keine. Wie er die Kosten für die Notschlafstelle weiterhin bezahlen soll, weiss er derzeit nicht. «Ich hätte nie gedacht, dass es so weit mit mir kommt», sagt der Rentner, der sein Leben lang gearbeitet und nie Drogen konsumiert hat.
Aus dem Gespräch wird deutlich, dass auch der Aufenthalt tagsüber im Winter zum Problem wird. Orte wie das Stutzegg, die Zwitscherbar oder die Gassenküche würden schliessen, bevor die Notschlafstelle um 21 Uhr öffne. Der Rentner ist deshalb auch froh um die Bibliotheken.
Hauptproblem: Wohnungsnot
Die meisten Klient:innen seien zwischen 25 und 55 Jahre alt, 80 Prozent Männer, sagt Urs Schwab, der seit 27 Jahren in der Notschlafstelle arbeitet. Der grösste Teil habe eine Sucht- oder psychische Erkrankung, «oft geht beides Hand in Hand». Ein Teil von ihnen sei schon in einem gestörten Beziehungsumfeld aufgewachsen, etwa durch Scheidung der Eltern oder Heimerfahrung. Früher seien auch ehemalige Verdingkinder und Betroffene der Aktion «Kinder der Landstrasse» gekommen; also Menschen, die als Kind ihren Familien weggenommen wurden. Eine zweite Gruppe seien Menschen, denen ein Schicksalsschlag widerfahren sei, wie etwa der erwähnte Witwer. «Es kann jeden Menschen treffen», resümiert Schwab.
Hinter diesen Einzelschicksalen gibt es allerdings eine politische Dimension: «Hauptthema ist der mangelnde niederschwellige und bezahlbare Wohnraum», sagt Annemarie Käch, Geschäftsleiterin des Vereins Jobdach. Aktuell stünden 71 Personen auf der Warteliste für betreutes Wohnen. «Weil es zu wenig Wohnraum gibt, bleiben die Menschen länger in der Notschlafstelle, was diese belastet», so Käch. «Ende Oktober mussten wir obdachlose Menschen abweisen», ergänzt Schwab, «das bereitet uns Sorge.»
Auch einen kleinen Schrank gibts im Zimmer der Notschlafstelle. Im Bild: Urs Schwab. | Bild: Sylvia Stam
Weihnachten ist schwierig
Die Not, günstigen Wohnraum zu finden, sieht auch Valentin Beck als eines der grossen Probleme unserer Gesellschaft. Der Luzerner Gassenseelsorger bringt Monika (23) und Heinz (58) zum Gespräch mit. Beide frequentieren die Gassenküche.
Monika lebt noch nicht lange auf der Strasse. «Ich hatte eine schwierige Beziehung zu meinen Eltern», erzählt sie. Sie verbrachte ihre Kindheit bei einer Pflegefamilie und im Heim. Die IV-Bezügerin und Drogenkonsumentin verlor ihre Wohnung und lebte daraufhin auf der Strasse. «Aktuell wohne ich bei Heinz.» Dieser wiederum lebt bei seiner Mutter, die ein grosses Haus hat. Auch Heinz erzählt von Heimerfahrungen. Der ehemalige Briefträger verlor seine von der Post subventionierte Wohnung, lebte darauf bei Kollegen und mehrere Jahre im Wald. «Monika hilft mir, meine Wohnung in Ordnung zu halten», sagt er mit schelmischem Blick zu ihr.
Bitte kein «Stille Nacht»
Seit vielen Jahren feiert Heinz Weihnachten in der Gassenküche. An Heiligabend gibt es hier ein dreigängiges Menü auf weiss gedeckten Tischen. Heinz hebt hervor, dass dieses vom Personal serviert wird: «Sie geben wirklich ihr Bestes, damit alle zufrieden sind!» Bis zu 100 Leute kämen an Heiligabend in die Gassenküche, sagt Valentin Beck. Nicht wenige der regulären Besucher:innen seien an Weihnachten in den eigenen Familien. Doch für andere käme das nicht in Frage. «Sie schämen sich oder sind dort nicht willkommen.»
«Die Familie ist nicht selten enttäuscht, dass man den Ausstieg immer noch nicht geschafft hat», erklärt Heinz. «In der Gassenküche lassen wir einander leben», sagt Monika, die dieses Jahr Weihnachten erstmals in der Gassenküche feiern möchte.
Zur Feier gehören auch ein Ritual bei der Feuerschale und Musik. Noch unsicher ist, ob dieses Jahr Lieder gesungen werden. «Bloss nicht wieder Stille Nacht!», sagt Heinz mit vielsagendem Blick zu Valentin Beck. Dieser schmunzelt. «Solche Lieder sind für normale Leute. Für uns auf der Strasse ist das Leben ein Überlebenskampf, darum will ich nicht singen», erklärt Heinz. Monika bringt es auf den Punkt: «Die Liebe und Nähe, die man nicht bekommen hat, vermisst man an Weihnachten besonders.»
Heinz schlägt vor, stattdessen einen Psalm via Youtube zu hören, vorgetragen von einem Sprecher, mit Musik hinterlegt. Valentin Beck kann der Idee etwas abgewinnen und wird es sich überlegen. Denn «bei Musik höre ich sehr auf Heinz», erklärt er und nickt wertschätzend in dessen Richtung. «Da hat er einen guten Riecher!»
Notschlafstelle: neuer Ort
Seit diesem Sommer befindet sich die Notschlafstelle am Neuweg 3 in Luzern. Hier gibt es 22 Plätze, Duschen, einen Aufenthaltsraum, eine Waschküche und einen Raum für den Konsum von Drogen.
Für 10 Franken können Selbstzahlende hier duschen, Kleider waschen und übernachten, inklusive Nachtessen und Frühstück. Dieser Tarif gilt während 15 innerhalb von 30 Nächten. So haben die Klient:innen 14 Tage Zeit, die nötige Unterstützung zu holen (Sozialamt, IV, Ergänzungsleistungen). Die Gesamtdauer ist auf 30 Nächte innerhalb von 60 begrenzt. Ausnahmen sind möglich. Im gleichen Gebäude bietet Jobdach, der Trägerverein der Notschlafstelle, 22 Studiowohnungen für betreutes Wohnen an. Der Zugang zu dieser Wohnform ist durch die Nähe einfacher.