Gott, der Raum hinter der Stille

Oft steht hinter dem Bedürfnis nach Ruhe eine tiefere Sehnsucht nach der Erfahrung von Stille und Ganzsein. Niklaus Brantschen (86), Zen-Meister und geistlicher Begleiter, sagt, was Ruhe und Stille unterscheidet und wie man sich der Stille nähern kann. 
 

Von Detlef Kissner («forumKirche», Pfarreiblatt Thurgau/Schaffhausen) |  29.02.2024

Weglassen, was Lärm macht: Niklaus Brantschen. | Bild: Lassalle-Haus

Warum suchen viele Menschen nach Orten der Stille?
Niklaus Brantschen:
Es wird viel von Stille geredet, weil die Stille fehlt. Was im Übermass vorhanden ist, darüber redet man nicht. Es mangelt aber an Stille. Darum suchen Menschen sie.

Und tun sich dann schwer, sie auszuhalten…
Es ist nicht leicht, die Stille auch zu ertragen. Wir werden unruhig und ungeduldig. Wir merken, dass wir uns in der Stille selbst begegnen, und suchen dann schnell nach Ablenkung. 

Wie findet man aus einem hektischen Alltag in die Stille?
Es genügt nicht, den Lärm fernzuhalten. Schallschluckende Wände oder ein Schild mit einem durchgestrichenen Handy schaffen noch keine Stille. Die Abwesenheit von Lärm ist noch nicht Stille. Stille will gepflegt werden. Ich finde Stille, indem ich sie suche und dann auch aushalte. Kraftorte wie Kirchen oder Kapellen können dabei helfen: sich einfach in eine Kirchenbank setzen und die Ruhe geniessen. 

Welche anderen Wege führen in die Stille?
Manche suchen die Stille bei einem Spaziergang im Wald, andere gönnen sich eine Zeit der Stille am Morgen oder Abend. Wichtig ist: Stille muss ich nicht machen. Selbst an einem geschäftigen Ort kann ich Stille finden. Sie umfängt, durchdringt mich. Es ist nichts ausserhalb von mir. Stille ist da. Sobald ich die Betriebsamkeit, die vielen Gedanken, die Ideen, die Unruhe loslasse, kann ich Stille wahrnehmen. Der Weg zur Stille führt über das Weglassen von dem, was Lärm macht, was Betrieb, Getue, Gerede ist. Dann kann ich plötzlich wahrnehmen, dass Stille da ist.

Kann man Stille auch in der Natur erleben?
Die Natur macht keinen Lärm. Sie macht Geräusche. Wenn es windet, hört man die Blätter rauschen, oder man hört die Vögel singen. Es hilft vielen Menschen, sich in der Natur zu bewegen, dort spazieren zu gehen.

Das Meditieren ist eine weitere Möglichkeit, Stille zu finden.
Für mich ist das explizite Stillsitzen, die Zen-Meditation, der direkte Weg: still sitzen, ruhig und natürlich atmen und nichts tun. Nicht wieder betriebsam sein, sonst mache ich die Stille kaputt. Dann nehme ich wahr, dass das, was ich Stille nenne, alles ist. 

Was erleben Menschen, die meditieren?
Auf der einen Seite gibt es eine gefühlte Stille: «Es ist so schön ruhig.» Aber darüber hinaus gibt es noch eine andere Erfahrung. Ich nenne sie die «Stille hinter der Stille», die tiefer geht, die gar nicht mehr fassbar ist, auch nicht definierbar. Es ist dieser weite Raum, den ich betrete, wenn wirklich alles zurückbleibt, was mich vordergründig beschäftigt. Dieser Raum hinter der Stille ist im Grunde genommen ein anderes Wort für «Gott», den ich nicht im Denken und Spekulieren finde, sondern nur, indem ich mich ihm aussetze.

Sie haben schon viele Erfahrungen mit Stille gesammelt. Was bedeutet es Ihnen, in Stille zu verweilen?
Mir geht es um die Erfahrung von Leben. Wenn ich an einem Tag zu wenig Momente der Meditation einbaue, dann werde ich gelebt, statt dass ich lebe. Dann bleibe ich an der Oberfläche und bin nicht am Puls des Lebens. Stille ist ein anderes Wort für Leben, das ich schmecke. Wenn ich in der Stille offen werde, schmecke ich das Leben, koste ich, wie gut es ist, wie viele Überraschungen und Freuden es in sich birgt. Der Lärm offenbart das nicht.