«Heute handeln wir einfach»

Vor 50 Jahren begann in der Schweiz die Synode 72. Der pensionierte Priester Willi Hofstetter (80)*, damals 30 Jahre alt, war als Delegierter dabei. Franziska Stadler (56), Pfarreiseelsorgerin in Emmen-Rothenburg, erlebte als Jugendliche die Früchte davon.

Von Sylvia Stam |  14.06.2022

Willi Hofestetter als Teilnehmer an der Synode 72. Bild: Privatarchiv Willi Hofstetter/Roberto Conciatori

50 Jahre Synode 72. Ist das ein Grund zum Feiern?

Willi Hofstetter: Einerseits ja, denn ich habe gute Erinnerungen daran, das war wirklich eine Kirche in Aufbruchstimmung. An der Synode konnten Laien, Laiinnen und Kleriker auf Augenhöhe sprechen, auch mit dem Bischof. Das haben sie nach aussen getragen. Es gab keine Tabuthemen.

Franziska Stadler, haben Sie etwas von dieser Aufbruchstimmung mitbekommen?

Franziska Stadler: Ich habe als Jugendliche viel von dieser Aufbruchstimmung gespürt. Wir hatten einen Priester, der diese Power vom Unterwegs-Sein aufgenommen hat: Er hat mich mit 16 Jahren an einen Kurs für Wortgottesdienste geschickt. Diese durfte ich in der Pfarrei dann auch leiten. Sechsmal im Jahr hat er am Wochenende bewusst frei gemacht und einer Gruppe von jungen Leuten ohne theologische Ausbildung die Gestaltung des Gottesdienstes überlassen.


«Konkrete Früchte der Synode sind die Gründung kirchlicher Arbeitsstellen, die Missionsarbeitsstellen, das ethische Institut», sagt Franziska Stadler. | Bild: Roberto Conciatori

Willi Hofstetter: Jazzmessen kamen damals auf. Wir haben die Texte und die Musik für Jugendgottesdienste selber gemacht. Es entstanden Pfarreiräte. Diese hatten den Mut, einem Bischof zu widersprechen, ihm einen Brief zu schreiben, und man bekam auch Antwort. Dennoch blieb vieles unerfüllt, es gibt immer noch viel Zündstoff. Das ist kein Grund zum Feiern. Es macht mich nachdenklich, dass nicht mehr von dieser Aufbruchstimmung und dem breiten Ansatz geblieben sind.

Welche langsfristigen Früchte sehen Sie?

Stadler: Konkrete Früchte sind auch die Gründung kirchlicher Arbeitsstellen, etwa in der Erwachsenenbildung, die Missionsarbeitsstellen, das ethische Institut, auch die Medienarbeit hat sich enorm verbessert.

Willi Hofstetter, in welcher Funktion haben Sie an der Synode 72 teilgenommen?

Hofstetter: Ich war damals Delegierter der Vikare im Kanton Solothurn und machte in der Kommission Bildung und Freizeit mit.


«Die Volkswahl des Bischofs wurde an der Synode diskutiert», erinnert sich Willi Hofstetter. | Bild: Roberto Conciatori

Erinnern Sie sich an einzelne Diskussionen?

Hofstetter: (lacht) Oh ja! In der Kommission "Ehe und Familie" diskutierte man über die wiederverheirateten Geschiedenen. Sprachlich hat man formuliert, man wünsche sich eine Öffnung der Kirche auf diese Menschen hin. Fordern konnte man das damals nicht. Familienplanung war ein Thema. Die Synodalen wollten, dass Eltern selber bestimmen können, nach welcher Methode sie verhüten. Die Volkswahl des Bischofs wurde diskutiert, ebenso wollte man einen Pastoralrat als Nachfolgeorganisation der Synode errichten. Beides wurde von Rom abgeschmettert. Daraus sind dann die Seelsorgeräte entstanden.

Stadler: Wenn ich das mit heutigen Ohren höre, denke ich: Gott sei Dank sind die Menschen heute mündig und handeln einfach. Selbstverständlich laden wir alle ein, am Mahl teilzunehmen. Ich denke öfters, wir müssen den Mut haben, zu handeln, ohne zu fragen. Nehmen wir die Krankensalbung, die nur von Priestern gespendet werden darf. Viele Nicht-Kleriker*innen beten für die Kranken, sie nennen es dann Krankensegnung. Wir dürfen unsere Berufung als Getaufte und Gefirmte ernst nehmen.

Im Moment ist der Synodale Prozess im Gang. Wie erleben Sie diesen?

Hofstetter: Ich habe lange überlegt, ob ich mitdiskutieren solle. Papst Franziskus ist wirklich offen und sagt: Macht etwas. Aber Nägel mit Köpfen gab's nicht, das enttäuscht mich schon! Die Familien- und die Amazonassynode haben kaum Veränderungen bewirkt. Viele Themen diskutierten wir schon vor 50 Jahren. Das ist frustrierend.


«Vielleicht muss das heutige Kirchenmodell sterben», meint Franziska Stadler. | Bild: Roberto Conciatori

Stadler: Vielleicht muss das heutige Kirchenmodell sterben. Es kommt mir vor wie bei Christi Himmelfahrt: Jesus muss gehen, damit die Apostel*innen Eigenverantwortung übernehmen.

Wie könnte so ein heutiges Pfingsten aussehen? Haben Sie eine Vision?

Stadler: Menschen ohne Theologiestudium, die auf andere Art ermächtigt wurden, sollten Verantwortung übernehmen können. Menschen, die sich bereits in den Pfarreien engagieren, und von denen man sagt: Die haben das Charisma dazu.


«Auch mutige, offene Pfarreiblätter finde ich ganz wichtig», sagt Willi Hofstetter. | Bild: Roberto Conciatori

Der Kanton Thurgau kannte ein solches Modell mit sogenannten Seelsorge-Mitarbeitenden. Das Bistum wollte das nicht.

Stadler: Mich dünkt das ein zukunftsfähiges Modell. Was nützt ein Studium, wenn die Predigerin die Menschen nicht erreicht, oder der Seelsorger es nicht versteht, wirklich zuzuhören. Ich träume von einem kooperativen Miteinander, den jeweiligen Fähigkeiten entsprechend.   

Hofstetter: Das Potenzial dazu wäre da. In meiner Heimatpfarrei sind Sakristan*innen mit Herzblut bei der Sache, gestalten selber Wortgottesdienste, sie bringen den Kranken von sich aus die Kommunion. Das sind für mich Hoffnungszeichen.

Stadler: Wir haben eine neue Art von Feiern eingeführt. Ich frage jeweils im Team, wer mitmachen möchte. Mal sind es die Sekretärinnen, mal die Katechetinnen, die Sakristane sind immer dabei. Das sind wunderschöne Feiern, keine Eucharistie, ohne Kommunion, aber wir teilen Brot und Wein miteinander und feiern das Leben gemeinsam auf neue Art. Es kommen ein paar wenige neue, und erstaunlicherweise ist auch das ältere Stammpublikum hellbegeistert.

Hofstetter: Es gibt Pfarreien, die ganz in diese Richtung arbeiten. Sie dürften noch etwas mutiger werden. Auch mutige, offene Pfarreiblätter finde ich ganz wichtig. Das Online-Portal kath.ch hat Mut, Dinge zu sagen. Eine Weile machte es den Anschein, als wollte man dessen Leiter Raphael Rauch absetzen. Das zeigt, dass das Portal gelesen wird. Das sind für mich Wegbereiter.


In den Pfarreien vor Ort sehen Franziska Stadler und Willi Hofstetter durchaus Hoffnungszeichen. | Bild: Roberto Conciatori

Stadler: Wir können auch die Sprache verändern. Erst langsam getrauen sich Seelsorgende, das Messbuch mal zur Seite zu legen und mit neuen, heutigen Worten zu feiern. Es ist mir ein grosses Anliegen, die Ewige Weisheit und Güte mit verschiedenen Namen anzusprechen. Schon kleine Änderungen bewirken, dass die Menschen wieder neu hinhören: Ich sage zum Beispiel immer: «Jesus Christus ist mit euch», statt «sei».

Hofstetter: Der frühere Basler Bischof Hansjörg Vogel hat gesagt: «Wir müssen uns vernetzen. Wenn wir 50 Bischöfe sind, die ein dringendes Thema selber umsetzen, kann Rom nicht mehr alle absetzen.» Das wäre ganz wichtig. Deshalb freut es mich, dass auch die Kirche in Deutschland mit dem Synodalen Weg erwacht ist.

Was lässt Sie dranbleiben?

Stadler: Ich werde es kaum noch erleben, dass wir auf nationaler oder gar internationaler Ebene etwas bewegen. Aber sich mit den Menschen vor Ort engagieren, das können wir, und ihnen erzählen, was wir vom Reich Gottes verstanden haben. Für die Menschen in der Pfarrei lohnt es sich hundertfach, da bin ich voll dabei!

*Willi Hofstetter war unter anderem in der Pfarrei Hitzkirch tätig. Heute wohnt er in Horw.

Alle dasselbe Stimmrecht

Mit der Synode 72 (1972–1975) wollte die Schweizer Bischofskonferenz die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils umsetzen. Nach einer landesweiten Umfrage wurden zwölf Themenfelder bestimmt. Über diese diskutierten die Synodalen in bis zu zehn mehrtägigen Sitzungen. Im Bistum Basel gab es 200 Synodale – 100 Priester und Ordensleute sowie 100 Lai*innen. Alle hatten dasselbe Stimmrecht, der Bischof hatte ein Vetorecht, von dem er laut Hofstetter nicht Gebrauch machte. Die Synode verabschiedete zwölf Beschlüsse zu den Bereichen Glauben und Verkündigung, Gottesdienst und Seelsorge, Verhältnis zur Gesamtkirche, zu Staat, Gesellschaft und Wirtschaft sowie Fragen der Ökumene, Bildung und sozialer Gerechtigkeit. Die Beschlüsse wurden von Rom mehrheitlich abgelehnt.