«Ich wollte den Bettel hinwerfen»

Vreni Peterer, Missbrauchsbetroffene und Präsidentin der Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld (IG-MikU), nennt die Pilotstudie einen wichtigen Schritt, dem weitere folgen müssen. Sie spricht über Vertrauensverlust und darüber, was für Betroffene von zentraler Bedeutung ist.

Von Marianne Bolt, Pfarreiblatt Katholische Kirche Zug |  12.09.2023

«Endlich steht schwarz auf weiss, dass versetzt und vertuscht wurde», sagt Vreni Peterer zur Missbrauchsstudie. Bild: Marianne Bolt

Vreni Peterer, am 12. September wurde die Pilotstudie zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz publiziert. Was für eine Bedeutung hat diese Studie für Personen, die von Missbrauch in der katholischen Kirche betroffen sind?

Vreni Peterer: Eine sehr grosse, obschon wir der Pilotstudie ursprünglich sehr kritisch gegenüberstanden! Endlich steht schwarz auf weiss, dass versetzt und vertuscht wurde. Nun sollte es auch dem Hinterletzten klar sein, dass Missbräuche stattgefunden haben. Und wir nahmen mit Befriedigung zur Kenntnis, dass Bischof Joseph Bonnemain bereits präventive Massnahmen angekündigt hat. 

Sie waren der Pilotstudie gegenüber kritisch eingestellt?

Viele Betroffene fragten sich, warum eine Pilotstudie erstellt werden muss, um herauszufinden, ob der sexuelle Missbrauch in einer umfangreichen Nachfolgestudie aufgearbeitet werden müsse. Das war für uns sehr verletzend. Aber nun sehen wir, dass die Pilotstudie eine gute Auslegeordnung ist.

Sie haben Bischof Bonnemains Massnahmen genannt. Sind diese in Ihren Augen ausreichend, um Missbrauch künftig zu verhindern?

Für den Moment sind wir zufrieden, dass die Massnahmen bis Ende 2024 umgesetzt werden sollen. Aber wir müssen dranbleiben. Denn wir sind uns bewusst, dass Menschen am Werk sind. Der Mensch ist die grosse Unbekannte. Es wird weiterhin Menschen geben, die anderen Menschen Leid zufügen.

Können Sie der katholischen Kirche unter solchen Bedingungen noch Vertrauen bezüglich der Bekämpfung von Missbrauch entgegenbringen?

Mein Vertrauen ist aufgrund der jüngsten Medienberichte zur Vertuschung von Übergriffen wieder stark gesunken. Ich wollte den Bettel hinwerfen und überlegte mir sogar, ob ich das an der Pressekonferenz tun soll, an welcher die Pilotstudie vorgestellt wurde.

Was für Auswirkungen hat dieser Vertrauensschwund auf die Zusammenarbeit mit kirchlichen Institutionen?

Ich werde künftig noch viel kritischer hinschauen und sein. Denn nicht nur die Medienberichte zum Versagen von amtierenden Bischöfen im Umgang mit Übergriffen hat sich negativ auf mein Vertrauen ausgewirkt, sondern auch die Tatsache, dass Bischof Bonnemain die Voruntersuchung gegen diese Bischöfe leiten wird. Er hätte diesen Auftrag nicht annehmen dürfen. Den Vertrauensschwund beobachte ich aber nicht nur bei Betroffenen, sondern sehr weit darüber hinaus.

Wie meinen Sie das?

Jetzt muss die ganze Gesellschaft aufgefangen werden. Und all jene Seelsorgenden, die gute Arbeit leisten und sich heute ohnmächtig fühlen und erschüttert sind. Wenn es jetzt zu Abgängen von solchen Seelsorgenden kommt, dann gehen einmal mehr die falschen!

Was sind für die IG-MikU die nächsten nötigen Schritte?

Betroffene müssen das Vertrauen haben, sich zu melden. Dazu benötigen sie Anlaufstellen, die stimmig sind und ihre Bedürfnisse erfüllen. Doch die Kirche wird auch tief in die Tasche greifen müssen. Sie hat die Missbräuche verursacht, nun soll sie auch für Therapien und weitere Unterstützungsformen aufkommen. Dazu ist die Genugtuung von maximal 20'000 Franken, welche die Kirche derzeit bezahlt, bei weitem nicht ausreichend.

Worunter leiden Betroffene nach einem Missbrauch am meisten?

Viele sind traumatisiert, ihr Urvertrauen wurde zerstört. Einige leiden unter Angstzuständen und Schlaflosigkeit. Andere unter Depressionen und unter körperlichen und seelischen Schmerzen. Beziehungsunfähigkeit, Vereinsamung oder negative Auswirkungen auf das ganze familiäre Umfeld sind keine Seltenheit.

Ein Missbrauch muss auch den eigenen Glauben äusserst strapazieren…

Das ist sehr individuell, da kann ich nur für mich sprechen. Die katholische Kirche ist trotz allem auch heute noch meine Heimat. Ich werde vorläufig nicht aus ihr austreten, denn ich habe nichts getan. Es sind die Täter, die gehen müssen. Geblieben ist bei mir aber die Angst vor dem Teufel. Der Pfarrer, der mich missbrauchte, hatte mir mit dem Teufel gedroht. Noch heute frage ich mich, wer nach meinem letzten Atemzug auf mich warten wird. Ist es Gott – oder doch der Teufel, weil ich den Namen des Pfarrers genannt habe?

Dies ist ein Beitrag aus der Kooperation der Arbeitsgemeinschaft der Pfarrblattredaktionen der Deutschschweiz (arpf.ch)

 

 

Vreni Peterer (62) ist eine Betroffene sexuellen Missbrauchs durch einen katholischen Pfarrer. Heute arbeitet sie als Betagtenbetreuerin und ist Präsidentin der Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld (IG-MikU).