Im Einsatz für starke Frauen

Sr. Lorena Jenal (72) lebt seit 40 Jahren in Papua-Neuguinea. Dort setzt sie sich für Menschenrechte ein und kämpft gegen Hexenverfolgung. Die Opfer sind oft starke Frauen. 

Von von Roland Juchem / kath.ch |  28.09.2022

Schwester Lorena Jenal mit einer geretteten Frau. Bild: Bettina Flitner/Missio Aachen

Schwester Lorena, Sie haben den Papst kurz getroffen. Was haben Sie ihm gesagt?
Sr. Lorena Jenal:
Ich habe ihm gesagt, dass wir am 10. August zum dritten Mal den Welttag gegen Hexenwahn begehen. Dass es unser Anliegen ist, diesen Wahnsinn zu beenden und den Frauen zu ihren Menschenrechten zu verhelfen.

Was hat Franziskus gesagt?
Er hat anerkennend den Daumen gehoben, unser Plakat unterschrieben und gesegnet. Das Bild zeigt Christina, eine Frau, die vor zehn Jahren Opfer des Hexenwahns wurde, die wir aber retten konnten.

Weswegen werden Frauen und andere der Hexerei beschuldigt? Was meinen die Ankläger damit?
Es ist das uralte menschliche Phänomen: Wir brauchen einen Sündenbock.

Wie kommt man auf die Sündenböcke, wofür sollen die büssen?
Es sind Menschen, die irgendwie aus der Reihe tanzen. Bei den Frauen, die wir retten konnten, handelte es sich ausnahmslos um ganz starke Frauen. Sie wissen, was sie wollen, können noch in schwierigsten Situationen einen Ausweg finden – mit der Familie, dem Mann, den Gärten… Und weil wir es mit einer sehr patriarchalischen Gesellschaft zu tun haben, werden sie mitunter zu stark – obschon sie Stütze der Familie sind.

Was wird diesen Frauen vorgeworfen?
Oft sind es plötzliche Todesfälle. Einmal war es eine Frau, die eine Schwangerschaftspsychose entwickelte. Sie hat einen gesunden Jungen entbunden, die Ärztin hat sie behandelt. Trotzdem wurde sie gefoltert. Ich habe mir dann von der Gynäkologin den Bericht geben lassen und das den Menschen im Dorf erklärt. Heute lebt die Familie glücklich im Dorf. Jeder Fall ist anders.

Wer bringt die Anklage vor? Wer fällt das Urteil?
Die Dorfgemeinschaft. Eine Frau wird angeklagt; es kommen ein paar hundert Leute, mitunter auch Polizisten. Dann wird die Frau angebunden und entkleidet. Um ihr Geständnis als Hexe zu erhalten, wird sie gefoltert; man beginnt immer mit den Brüsten. Starke Frauen sagen Nein. Andere ziehen andere mit hinein. Zum Hintergrund muss man wissen: Die Menschen dort wurden in den gut 40 Jahren, die ich jetzt dort bin, von der Steinzeit in die digitale Welt katapultiert. Innerhalb von zwei Generationen von der Steinaxt zum Smartphone. Plus Alkohol und Waffen, aber zu wenig Investitionen in Bildung.

Wer spricht das Urteil?
Jene, die quälen – oft unter Alkohol. Das Urteil ist schon gefällt.

Wie können Sie da noch einschreiten?
Im November konnten wir sieben Frauen retten – die jeweils drei bis fünf Kinder haben und einen Mann. Mit meinen Mitarbeitern ging ich hin und sagte: «Ich habe keinen Mann, keine Kinder, ihr könnt mit mir anfangen. Da sagten sie: »Nein, das geht nicht.«

Warum?
Die allermeisten kennen mich; wissen auch, was meine Mitarbeiterinnen und ich für sie schon getan haben. Ich sagte ihnen: »Ihr alle seid von einer Frau geboren worden. Ihr alle wärt nicht hier, wenn nicht eure Mutter euch neun Monate in ihrem Schoss getragen und unter Schmerzen geboren hätte. Und jetzt fügt ihr diesen Frauen Schmerzen zu – das ist Wahnsinn.« Das war sehr dramatisch – danach habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen. Aber den sieben Frauen und mir ist nichts passiert. So etwas spricht sich herum und kann in den Köpfen etwas verändern.

In Kanada hat der Papst um Vergebung gebeten, weil frühere Missionare kulturell-religiöse Traditionen von Indigenen nicht achteten. Wie unterscheiden Sie zwischen diesen und Menschenrechtsverletzungen?
Ich vertrete nicht die Meinung, dass Leute besser werden, wenn sie getauft sind. Das ist die freie Entscheidung jedes Menschen. Ich habe ihre Sprache gelernt, versuche, Sitten und Gebräuche, die den Menschen hier wichtig sind, zu verstehen. Ich hatte das grosse Glück, mit Familien leben zu dürfen, Männer zu treffen, die grossartige Häuptlinge ihrer Stämme waren.

Wie gehen Sie mit Polygamie um?
Ein Häuptling kam auf mich zu, richtete seinen Zeigefinger auf mich und sagte: Ihr Schwestern müsst doch gehorchen. Also beauftrage ich dich, mich auf die Taufe vorzubereiten.

Haben Sie gehorcht?
Sieben Jahre lang hat das Katechumenat gedauert – mit diesem Mann, der acht Frauen hatte, 25 bis 30 Söhne, die Töchter hat er nie gezählt. Einmal fragte ich ihn: Warum willst du unbedingt Christ werden? Da nahm er ein Kruzifix von der Wand, setzte sich auf den Boden und hielt es im Arm wie eine Mutter ihr Kind. Dann sagte er: »Lorena, hör mir zu: Der hier, der am Kreuz gestorben ist, hat alle Opfer, was früher geschah, was wir gemacht haben, was heute passiert und noch geschieht, in sein Liebesopfer hineingenommen.« Der Mann, der nicht lesen und schreiben konnte, hat das, was im Hebräerbrief kompliziert formuliert ist, viel einfacher ausgedrückt.

Und dann?
Ich habe unserem Kapuzinerpater gesagt: «Wir taufen Häuptling Sia.» «Du bist verrückt», sagte der, «wir können keinen Mann mit acht Frauen taufen.« Da habe ich ihm gesagt: »Ich darf nur vorbereiten, nicht taufen. Das müsst ihr klären, von Mann zu Mann.»

Und …?
Das Problem haben wir nicht mit Kirchenvertretern gelöst, sondern mit der Dorfgemeinschaft in einem synodalen Weg, um miteinander und füreinander einen Weg zu finden. Die Frauen haben gemeinsam mit dem Mann entschieden, welche von ihnen sich für den Rest des Lebens verbindet. Für die anderen Frauen hat er weiterhin gesorgt, aber die lebten dann für sich oder mit ihren Söhnen.
Geheiratet hat er die jüngste, aber das war deren Entscheidung. Und so hatten wir eine Familientaufe – auch seine Frauen, Kinder und Enkel. Seine jüngste Tochter arbeitet mit in unserem Seelsorgezentrum. Dieser synodale Weg des Miteinander und Füreinander ist auch der ideale Weg zur Bekämpfung des Hexenwahns.

Ist denn nach dem Vorfall eines Hexenprozesses ein solches Gespräch noch möglich?
Das muss man immer suchen, aber vorsichtig sein. Die Gemüter müssen sich erst beruhigen. So wartet man ein oder zwei Wochen, arbeitet dann sehr intensiv und muss immer wieder zurückkehren und schauen, ob es allen gut geht.

Sie sind mehrfach bedroht worden. Haben Sie je daran gedacht, in Ihre Schweizer Heimat zurückzukehren, weil es dort sicherer und schöner ist?
Das letzte Mal hatte ich im April ein Messer am Hals. Da war mir klar: Ich muss erst einmal fort, Abstand und innere Balance gewinnen. Zum Auftanken komme ich sicher immer wieder nach Europa, aber nicht, um zu bleiben. Nach den vielen Jahren in eine so organisierte Schweiz zurückzukommen, wo es auf die Minute ankommt, es für alles Regelungen gibt. Da wäre ich überfordert (lacht), und die anderen mit mir.