Selbstbestimmt das Leben feiern

Irene Müller und Thomas Steinmann leben im Brändi Sursee und sind ein Paar. Das «Liebesfest», zu dem sie im August in die Kapelle Mariazell einluden, zeigt, wie Selbstbestimmung für Menschen mit einer Behinderung gelebt werden kann.

Von Dominik Thali |  25.09.2025

Irene Müller und Thomas Steinmann: Unter Applaus zieht das strahlende Paar nach der Feier aus der Kapelle Mariazell aus. |Bild: Roberto Conciatori

Paare, die sich das Ja-Wort geben, stecken sich meist einen Ring an den Finger. Irene Müller (63) und Thomas Steinmann (55) machten es anders: Sie suchte einen bunten Schal aus, er eine Krawatte. «Äussere Zeichen eurer Liebe, die so einzigartig ist wie ihr selbst», sagte Behindertenseelsorgerin Fabienne Eichmann an der Feier.

Müller und Steinmann haben beide eine kognitive Behinderung. Als sie den Wunsch vorbrachten, zu heiraten, nahm das Brändi, wo die zwei in einer betreuten Wohnung leben, dieses Anliegen auf. «Weil darin das Bedürfnis nach Mitbestimmung in der Lebensgestaltung zum Ausdruck kommt», sagt Sozialpädagoge David Recher.

Bildung ohne Barrieren

Eine geistige Behinderung schliesst zwar eine zivil- oder kirchenrechtliche Trauung aus. Nicht aber eine Segensfeier. Eine solche ist aussergewöhnlich, Selbstbestimmung dieser Art in Einrichtungen für Menschen mit einer Behinderung hingegen selbstverständlich. Die UNO-Behindertenrechtskonvention, in der Schweiz seit 2014 in Kraft, und das Leitbild «Leben mit Behinderungen» des Kantons Luzern (2018) sind die Grundlage dafür. «Jeder Mensch hat das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen, ohne fremde Bevormundung», sagt Andreas Fix, der den Wohnbereich Pflege in der SSBL in Rathausen leitet. Er erwähnt als Beispiel den «Zugang zu inklusiver Bildung ohne Barrieren», der in der SSBL gilt. Oder die Klient:innen-Vertretung, die es in der Stiftung seit diesem Januar gibt. Dieser Rat aus sieben demokratisch gewählten Mitgliedern vertritt sämtliche Bewohnenden und Tagesbeschäftigten gegenüber der Leitung der SSBL. Klientelräte und einen Schüler:innenrat gibt es auch in der Stiftung Rodtegg. Dort kann jede Person auch online Ideen eingeben. Die Themen sind vielfältig: Zimmereinrichtung, Ausgang, Arbeitsplatz.

Nicht entmündigen

Was die gleichberechtigte und umfassende Teilhabe an gewöhnlichen Lebensbereichen im Alltag heisst, erläutert Simona Hodel, Agogik-Verantwortliche beim Brändi Sursee, an einem anderen Beispiel: Als dort unlängst eine zusätzliche Wohnung gemietet wurde, die sich in einem gewöhnlichen Block befindet, wurden alle Klient:innen darüber informiert. Sie konnten die Wohnung besichtigen und sich bei Interesse für ein Probewohnen anmelden. Für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sei es herausfordernd, sich ein neues Wohnangebot vorzustellen, ohne es selbst erlebt zu haben, erklärt Hodel. Wer nach dem Probewohnen weiterhin Interesse zeigte, musste sich offiziell für ein Zimmer bewerben. 

Zur Selbstbestimmung gehöre freilich, auch einmal eine schlechte Entscheidung zu treffen, sagt Fix von der SSBL. Selbstbestimmung könne also mitunter der Fürsorgepflicht widersprechen, jemanden vor Schaden zu schützen. In einer inklusiven Gesellschaft, sagt Fix, würden deshalb Menschen mit einer Behinderung «unterstützt, aber nicht entmündigt». Das verlangt von den Betreuungspersonen Achtsamkeit: «Sie dürfen die eigene Lebenswahrnehmung nicht über jene der betreuten Menschen stellen.»